© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    49/99 03. Dezember 1999


"Die erste Geige spielt das Herz"
von Baldur Springmann

Die erste Geige spielt das Herz." Dieses ebenso heiter-lakonische wie kristallklare Elixier einer ganzen Weltanschauung hat mir vor 70 Jahren der Generalfeldmarschall von Mackensen, der damals so alt war wie ich heute, als Wegweiser fürs ganze Leben vorgegeben. "Und dann erst kommt das Köppke", hat der Alte damals hinzugefügt, "das muß denn och janz jut uff Draht sein."

An all das habe ich glücklicherweise gedacht, als ich – ziemlich bestürzt über den Forumsbeitrag "Genetische Vielfalt" (JF 42/99) – in einer Polemik mindestens zwanzig Aussagen von Klaus Kunze zerpflücken wollte. Glücklicherweise! Denn dabei wurde mir schnell klar, wie wenig eine solche Polemik (vom griechischen polemos gleich "Krieg"!) zu dem Stil paßt, der jenem Mackensen-Zitat entsprechend die bunte Vielfalt der Fortschrittlichen unserer stürmisch bewegten Zeit vereinigt und glasklar von den Reaktionären unterscheidet.

Zu diesen Reaktionären rechne ich besonders diejenigen, die immer noch der Aufklärungsbegeisterung des 19. Jahrhunderts verhaftet sind und nicht einsehen können oder nicht sehen wollen, auf welchem verhängnisvollen und lebensfeindlichen Irrweg das Überschwappen der einstmals so dringend notwendigen Aufklärung in die totale Säkularisierung geführt hat. Diese Säkularisierung, dieser einerseits lachhafte Versuch, das Göttliche aus der Natur zu vertreiben, und dieses leider erfolgreiche Beginnen, das Göttliche aus dem Menschenherzen zu vertreiben.

Wirklich lächerlich das erstere, weil es ja an der metaphysischen Ausstrahlung etwa einer Lilienblüte nicht das Geringste ändert, wenn jemand davor steht und sagt: "Ich sehe hier weiter nichts als die und die Wellenlänge des Spektrums, von einer so und so geformten und so und so chemisch zusammengesetzten Substanz ausgehend." Wirklich schlimm aber demgegenüber das Zweite, weil es die Amputation oder doch mindestens das Verschütten eines der hauptsächlichen Wesensmerkmale des Humanum bedeutet, der Religiosität. Neben der Sprache und damit der Fähigkeit zum Austausch geistiger Inhalte, dem Selbst und dem Geschichtsbewußtsein ist es doch auch diese Religiosität, diese Fähigkeit zur bewußten Kommunikation mit dem Göttlichen, welche unsere Spezies von Bruder Tier unterscheidet. Daß man heute, wenn man irgendwelche Unterschiede erwähnt, eiligst hinzufügen muß, daß das mit Wertung nichts zu tun hat, haben wir jenen Säkularisierungsadepten zu verdanken, die in einer Art Überreaktion auf den allerdings völlig inakzeptablen nationalsozialistischen Biologismus nun eine Ideologie aufbauen, welche jede Berücksichtigung naturgegebener und also gottgewollter Unterschiede als "faschistisch" verteufelt.

Und wenn man Religiosität erwähnt, wird man allzu leicht mißverstanden, wenn man nicht alsbald hinzufügt, daß damit nicht etwa Religion gemeint ist, sondern eher etwas Gegenteiliges, obwohl sich ja beides auf dasselbe bezieht, nämlich auf das Göttliche. Der Unterschied ist, daß Religiosität als Charakteristikum des Menschentums etwas Gottgegebenes ist, sämtliche Religionen aber sind menschengemachte Ausdrucksformen dieser Veranlagung. Gerade dann, wenn sie sich als gottgegeben und etwa gar alleinseligmachend darstellen, beweisen sie damit, daß sie wie alles Menschenwerk sehr wohl Großartiges darstellen und bewirken können, aber leider auch Irrtümliches und Destruktives.

Hier haben wir es also mit einem Unterschied zu tun, bei dem Wertung legitim und darüber hinaus notwendig ist, eine Wertung, welche Schiller in dieser frappanten Weise niedergeschrieben hat: "Fragst Du mich, welcher Religion ich sei, so antworte ich: Keiner. Fragst du mich, warum, so antworte ich: Aus Religion."

Und wer wollte bezweifeln, daß im zweiten Satz Religiosität gemeint ist und eben mit ihr die Distanz zu allen menschengemachten Dogmen, Ritualen, Kirchen oder Sekten begründet wird.

Genau damit sind wir endlich bei des Pudels Kern, der für alle religiösen Menschen selbstverständlichen Priorität alles Gottesgegebenen über alles Menschengemachte. Und die crux unserer Zeit ist die bereits weitgehend gelungene Umkehrung dieser Rangordnung durch die unseligen Supersäkularisierer. Diese im Grunde bedauernswerten Homoiden, welche sich selbst des wirkungsvollsten ethischen Steuerruders, der Fähigkeit zur Ehrfurcht, beraubt haben, die nicht einmal die so einleuchtende Schweitzersche Version der Ehrfurcht vor dem Leben nachvollziehen können, sondern Derartiges "moralische Kleingeisterei" oder einen "Salto weit rückwärts vor die Aufklärung" nennen und zur Lösung unseres Zeitproblems nichts als ein "Höchstmaß an Beherrschung unserer biologischen Unterlagen" zu fordern wissen.

"Macht euch die Erde untertan", höre ich da ziemlich erschrocken als Quintessenz der infolge der Säkularisierung immer noch dem mechanistischen Paradigma verhafteten "Naturwissenschaft" heraus, deren "Biologen" vom logos (Sinn, geistiger Hintergrund) des bios (Leben) nicht, aber wirklich überhaupt nichts verstehen, weil sie immer noch (bis auf einige wenige "Holisten") die Lebewesen und Lebenszusammenhänge als Mechanismen mißverstehen. Da fragt man sich, mit welchen grellen Leuchtfarben wir das Menetekel unserer Zeit an alle Wände malen müssen, damit diese Maulwürfe es endlich sehen.

Wie einfach, schlicht und klar werden alle Grundsatzentscheidungen, wenn wir der schon von Goethe erhobenen Forderung folgen, alles Erforschliche zu erforschen, alles Unerforschliche aber zu verehren. Beispielsweise in der Politik, wo heute die säkularisierten Intellektuellen und Ideologen die Priorität des niemals von einem Menschenhirn erdachten, sondern natürlich gewachsenen, also gottgegebenen Volkstums den ausschließlich menschengemachten Konstrukten "Staat", "Verfassung", "Mulitethnien-Ideologie" usw. unterordnen wollen.

Nicht anders sieht es im Wirtschaftsleben aus, wo der Wahnsinn einer auf "Wachstum" angewiesenen Wirtschaft wie ein Krebsgeschwür in immer weitere Metastasen ausufert. Da mögen noch so viele "Wirtschaftsweisen" noch so hochintelligente Zahlenwerke präsentieren, irgendwie sind sie alle Potemkinsche Dörfer, weil sie die Tatsache verstellen, daß natürliches, also gottgegebenes Wachstum genau entgegengesetzt verläuft zu dem vom Zinseszins angetriebenen "exponentiellen" Krebswucher.

Die Kurve der exponentiellen Zunahmebeschleunigung zeigt mit mathematischer Unerbittlichkeit an, daß sie in der Unendlichkeit des Nichts sich verlieren muß. So ist der Dinosauriertod unserer Wirtschaft bereits programmiert und wird früher oder später stattfinden, wenn wir Fortschrittlichen nicht eindringlich genug unser Menetekel der arroganten, profitgierigen Maßlosigkeit der ewig Gestrigen entgegenstellen. Hier bedarf es allerdings besonders gut vorbereiteter Argumentation, weil ja nicht nur den neoliberalen Tricks der Superreichen eine Grenze gesetzt werden muß, sondern auch dem ganz legitimen Prosperitätsstreben der Allgemeinheit.

Im Bereich nun der durch die erstaunlichen Ergebnisse der mikrobiologischen Forschung möglich gewordenen Biotechniken, insbesondere Gentechniken, ist es viel einfacher, die Priorität des Gottgegebenen gegen die Hybris jener Macher zu verteidigen, die "das alles viel besser können als der liebe Gott". Es ist kaum vorstellbar, daß irgend jemand nicht einsehen könnte, daß die ebenso wunderschöne wie unentbehrliche Vielfalt der Schöpfung nur dadurch ermöglicht und erhalten wird, daß es im Bereich der Lebewesen das natur- und damit gottgegebene Gesetz der unerbittlichen Artenschranken gibt: Wenn die Rose sich mit der Lilie kreuzen könnte oder der Hase mit dem Igel, gäbe es weder Rosen noch Lilien noch Hasen noch Igel, sondern nur graue Chimären.

Und da ist es ja wohl klipp und klar, daß jede Überschreitung dieser gottgegebenen Artengrenzen – ob da nun dem Bullen "Hermann" ein menschliches (!) Gen untergejubelt wird, damit seine Nachkommen eine der Muttermilch ähnliche Milch geben, mit der man einen tollen Reibach machen kann, oder ob sonstige gewinnträchtige transgene Konstrukte inauguriert werden –, daß alles Derartiges schlicht und einfach nichts anderes als Frevel ist.

Basta. Da gibt’s kein Wenn und Aber. Und all die zur Verschleierung der zumeist dahintersteckenden Gewinnraffgier angestimmten Schwanengesänge von zu erwartenden schönen neuen Welten verhindern nur die uns Menschen nun mal abverlangte gedankliche und emotionale Auseinandersetzung mit der Wirklichkeit. Mit der Wirklichkeit, zu der beispielsweise auch die Möglichkeit von Krankheiten gehört. Diese Möglichkeit ganz und gar abschaffen zu wollen, ist purer Zaubererlehrlingswahnsinn. Krankheiten besser, also ganzheitlicher heilen zu lernen, ist die vernünftige, von der Ehrfurcht vor dem Leben gebotene Konsequenz unserer fortschreitenden Kenntnis natürlicher Zusammenhänge.

 

Baldur Springmann, Jahrgang 1912, war in den siebziger Jahren in verschiedenen Umweltschutzvereinigungen und in der Anti-AKW-Bewegung aktiv und gehörte zu den Mitbegründern der Grünen.


 
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