© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


LOCKERUNGSÜBUNGEN
Gestaltungsspielraum
Karl Heinzen

Der Bürger muß daran gewöhnt werden, sein Schicksal wieder in die eigene Hand zu nehmen: Diese Maxime ist den meisten Menschen in unserem Land, da sie persönlich von staatlichen Leistungen profitieren, nur schwer nahezubringen. Von einer anderen Mehrheit hingegen wird sie spontan verstanden: Autofahrer sind nicht nur per se mobil, dynamisch und zielstrebig, sie erfahren vor allem tagtäglich, daß sie vom Staat keine Verbesserung ihrer Lebensbedingungen mehr erwarten können. Diese gewachsene Einsicht so vieler darf nicht ungenutzt bleiben – und sie muß vor allem genährt werden: Die Verkehrspolitik steht in der Verantwortung auch für andere Ressorts, wenn es darum geht, in der Beschränkung des Staates auf die allernotwendigsten Kernaufgaben Neuland zu betreten.

Das die Finanzierung der Verkehrswege zwischen 1999 und 2002 regelnde Investitionsprogramm der Bundesregierung zeigt, daß man um die Möglichkeiten des Ressorts Klimmt weiß, das Staatsverständnis der Bürger zu prägen: Wer einen Autobahntorso wie die A 99, den unvollendeten Ring um München, planen konnte, der wird auch für weitere Überraschungen gut sein – zum Beispiel in der Rentenpolitik. Anschaulicher lassen sich Argumente für mehr private Lebensvorsorge nicht an den Bürger bringen.

Verkehrspolitik ist aber mehr als nur Symbolpolitik. Im Gegensatz zu den meisten anderen Ressorts werden nämlich hier nicht bloß Ausgaben getätigt, sondern auch jene Rahmenbedingungen geschaffen, die dem Staat eine Einnahmequelle in bald schon dreistelliger Milliardenhöhe zu optimieren helfen. Verkehrspolitik muß in Zeiten knapper Kassen vor allem Finanzpolitik sein: Einer Erhöhung der Mineralölsteuer begegnet der Bürger zwar nicht durch eine Einschränkung seiner Fahrleistung, aber er versucht doch, mehr und mehr auf Fahrzeuge mit sparsamerem Verbrauch auszuweichen. Diesem Versuch der Steuervermeidung kann der Staat nicht tatenlos zusehen: Er muß durch eine gezielte Desinvestitionspolitik insbesondere die Autobahn-Infrastruktur so gestalten, daß durch Staus jene Verbrauchsrückgänge kompensiert werden, die in der Fortbewegung zu beklagen sind.

Darüber hinaus ist die Bedeutung einer zukunftsorientierten Staupolitik für den Arbeitsmarkt zu bedenken: Nach Berechnungen des ADAC fallen jährlich 4,7 Milliarden Stunden an Zeitverlust für die Autofahrer an. Selbst wenn man annimmt, daß nur knapp jede zweite von diesen einem beruflichen Zweck dient, sind es deutlich über 1,2 Millionen Arbeitsplätze, die durch den Stillstand auf unseren Straßen gesichert werden.

Eine effizientere Staugestaltung könnte noch mehr Verkehr anlocken, die abschreckende Wirkung langen, zusammenhängenden Stillstandes durch dessen Dezentralisierung kompensiert werden: Hier hat Politik noch jene Gestaltungsspielräume, deren Fehlen sonst so oft beklagt wird.


 
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