© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


WTO-Konferenz in Seattle: Weitere Globalisierung vorerst auf Eis gelegt
Die Handelsblöcke sind zerstritten
Michael Wiesberg

Keine Frage, die am Samstag zu Ende gegangene Ministerrunde der Welthandelsorganisation (WTO) in Seattle stand unter keinem guten Stern. Der Beginn der Konferenz wurde von massiven Protestkundgebungen überlagert, auf die die Behörden in Seattle mit der Verhängung des Ausnahmezustandes reagierten. Randalierende Demonstranten, die der WTO eine die Umwelt und soziale Rechte gefährdende Politik vorwerfen, hatten sich in der Nähe des Kongreßzentrums regelrechte Straßenschlachten mit der Polizei geliefert. US-Präsident Bill Clinton und selbst die resolute US-Handelsbeauftragte Charlene Barshefsky zeigten sich beeindruckt. Beide äußerten Sympathien für die Anliegen der Demonstranten. Clinton plädierte nachdrücklich für eine größere Rolle von Umweltschutz und Arbeitnehmerrechten in den internationalen Handelsbeziehungen. Von den 135 WTO-Mitgliedern forderte er, diese Punkte bei der Konferenz in Seattle zu berücksichtigen. Ursprünglich hatte Clinton sogar gefordert, daß die Sozialstandards mit Sanktionen durchgesetzt werden müßten.

Daß Clinton sich dieses Anliegen der amerikanischen Gewerkschaften überhaupt zu eigen machte, ist sicherlich nicht nur auf den amerikanischen Wahlkampf zurückzuführen, wie hier und da gemutmaßt wurde. Clintons Forderung deutet auch auf einen Mentalitätswandel der US-Amerikaner hin, die nicht mehr uneingeschränkt hinter dem Konzept des Freihandels stehen. Die FAZ-Autorin Carola Kaps bemerkte am 16. November in diesem Zusammenhang, daß in den USA die "wirtschaftliche Integration nicht mehr mit Wohlstandsmehrung, sondern immer häufiger mit Verarmung und Umweltzerstörung gleichgesetzt" werde. Für Millionen von Amerikanern seien "Freihandel und Globalisierung zum Feindbild geworden".

Die Heftigkeit der Demonstrationen in Seattle, an denen zeitweise mehr als 30.000 Demonstranten teilnahmen, unterstreichen diese Einschätzung von Carola Kaps eindrucksvoll. Die Feindseligkeit der Demonstranten steht im auffälligen Gegensatz zu den optimistischen Erwartungen der WTO-Teilnehmer insbesondere aus den westlichen Industriestaaten, die einmal mehr behaupteten, daß auch diese Konferenz den Weg zu mehr Wohlstand auf der Welt freizumachen versuche. Dazu müßten allerdings einmal mehr direkte und indirekte Handelshemmnisse geschliffen werden. Erst dann sei die Partizipation am ökonomischen Fortschritt mehr Menschen als bisher möglich.

Ein neuer Protektionismus der Industriestaaten

Daß die Verhandlungen von gravierenden Differenzen insbesondere zwischen den USA, den EU-Staaten und den Entwicklungsländern gekennzeichnet waren, konnte angesichts der Bedeutung dieses Treffens nicht weiter verwundern. Als Knackpunkt zwischen den USA und der EU entwickelte sich wie erwartet vor allem die Auseinandersetzung um die Agrarsubventionen. Die WTO-Arbeitsgruppe für Landwirtschaft hatte empfohlen, alle Beihilfen für Agrarexporte auslaufen zu lassen. Die EU lehnte die Forderung der sogenannten "Cairns-Gruppe" (USA und die größten Agrarexportländer) ab, die Einstellung der Landwirtschaftssubventionen mitzutragen. Diese Ablehnung war zu erwarten. Nach Auffassung der Cairns-Gruppe sind landwirtschaftliche Produkte nichts anderes als Waren, die wie alle anderen Waren dem freien Wettbewerb ausgesetzt werden müßten. Die EU-Staaten hingegen bestehen auf der "Multifunktionalität der Landwirtschaft", der nicht nur eine Produktionsfunktion zukomme. Diese habe darüber hinaus auch Aufgaben wie den Schutz der Artenvielfalt, der Umwelt und des bäuerlichen Lebens zu erfüllen. Daß die amerikanischen Agrarkonzerne gegen eine derartige Sichtweise Sturm laufen, versteht sich von selbst.

Die Entwicklungsländer, die immerhin vier Fünftel der 135 WTO-Mitglieder stellen, monierten, daß sie von wichtigen Diskussionen ausgeschlossen würden. Insbesondere die Festschreibung von Sozialstandards stieß auf Widerstand. Die Entwicklungsländer sehen in verbindlichen Sozialstandards eine Art Protektionismus der Industriestaaten, mit dem sich diese der Billiglohnkonkurrenz aus den Entwicklungsländern zu erwehren suchten. Sie ließen sich auch von der Ankündigung des WTO-Generalsekretärs Michael Moore nicht beschwichtigen, der behauptete, daß die Entwicklungsländer von der nächsten Freihandelsrunde, die eigentlich in Seattle vorbereitet werden sollte, am meisten profitieren würden. Moore rechnete vor, daß Indien angeblich mit 9,6 Prozent, China mit 5,5 Prozent und Schwarzafrika mit 3,7 Prozent mehr Wachstum rechnen könnten. Und den USA hätte der Ausbau des Handels, so Moore, innerhalb von sechs Jahren 20 Millionen neue Arbeitsplätze mit vergleichsweise hohen Löhnen beschert.

Die Avancen Moores haben das Scheitern des Gipfels nicht verhindern können. Gegen Ende der Konferenz wurde immer deutlicher, wie zerstritten die Handelsblöcke sind. Eine Entwicklung, die Lester Thurow, Professor an der amerikanischen Renommieruniversität Massachusetts Institute of Technology (MIT) bereits in seinem Buch "Die Zukunft des Kapitalismus" (dt. 1996) ansprach. Thurow stellte fest, daß die Handelsblöcke als "natürliches Sprungbrett in einem Evolutionsprozeß" dienten, "der zu einer wirklich globalen Wirtschaft führen wird". Sie erzeugten aber auch "einige gegenläufige Tendenzen": "Innerhalb der jeweiligen Blöcke wird", so Thurow, "der Handel immer freier, aber gleichzeitig schotten sich die Staaten zunehmend gegen den Handel unter den einzelnen Blöcken ab".

Diesen Gegensätzen ist die WTO, die 1994 in Marrakesch ins Leben gerufen wurde, um neue Regeln für den Welthandel zu formulieren, von ihrer Struktur her nicht gewachsen. Warum, hat der bereits zitierte Lester Thurow dargelegt: "In dieser inhaltlich leeren Organisation gibt es keine wirkliche Führerschaft, und das vereinbarte Abstimmungsverfahren (ein Land, eine Stimme) läßt die Entwicklung eines neuen Systems erst gar nicht zu."

Der Komplex Landwirtschaft zeigt exemplarisch, warum die Handlungsfähigkeit der WTO weitgehend gelähmt ist. Mit diesem Thema hängen eine Reihe von Problemen zusammen, die im Grunde genommen nicht zu regeln sind. Würde seitens der WTO ein strikter Freihandel für landwirtschaftliche Produkte durchgesetzt, hätte dies den wirtschaftlichen Ruin vieler Landwirte in Europa und Asien zur Folge. Der soziale Sprengstoff, der sich in der Folge in den Staaten Asiens und Europas ansammeln würde, würde mit ziemlicher Sicherheit eine Krise der betroffenen Regierungen nach sich ziehen.

Oder das Thema Internet: Keine Regierung weiß heute genau, wie sie Gesetze zur Regulierung der Internetnutzung implementieren soll. Ja, es besteht noch nicht einmal Einigkeit darüber, wie diese Gesetze inhaltlich auszugestalten sind.

Diese beiden Beispiele zeigen, daß die globalisierte Wirtschaft vor grundlegend veränderten Verhältnissen steht. Die erste Phase, die durch den Abbau von Zöllen aller Art gekennzeichnet war, liegt hinter uns. Was jetzt kommt, greift tief in nationale Kompetenzen ein. Entsprechend hart werden die Auseinandersetzungen geführt. Seattle wird nicht das letzte Beispiel dafür bleiben.

Die Wechselwirkung der großen Märkte ist begrenzt

Entscheidend aber ist, daß sich die internationalen Märkte in einem Zustand der Asynchronität befinden. Ausgangspunkt dieser Asynchronität war die Wirtschaftskrise in Südostasien. Die Krise der südostasiatischen Aktien- und Finanzmärkte hat zu einer grundlegenden Veränderung der ökonomischen Paradigmen in dieser Region geführt. Dieser Paradigmenwechsel kam nicht zufällig zustande, sondern war Resultat der Politik und der ökonomischen Prozesse der Staaten dieser Region.

Im gleichen Zeitraum, als Südostasien in die Krise geriet, ging die Hochkonjunktur in den USA aber ohne nennenswerten Einbruch weiter. Diese Asynchronität zwischen der asiatischen und der amerikanischen Wirtschaft muß stutzig machen, denn sie widerspricht der immer wieder vertretenen Auffassung von der Interdependenz der Märkte. Gemäß dieser Auffassung hätte die Asienkrise erhebliche Negativauswirkungen auf die US-Wirtschaft haben müssen. Dies wurde auch allerorten erwartet. Heute wissen wir, daß sich keine gravierenden Auswirkungen auf die US-Konjunktur feststellen ließen. Daraus läßt sich ableiten: Die Behauptung, die internationalisierten Märkte stünden in Wechselwirkung miteinander, kann in dieser Pauschalität nicht aufrecht erhalten werden. Ganz offensichtlich sind ökonomische Entscheidungen immer noch in einem erheblichen Maße national bzw. regional motiviert. Ein Ergebnis der asiatischen Krise war ein enormer Kapitaltransfer vom asiatischen zum amerikanischen Markt. Dieses Kapital heizt die amerikanische Konjunktur weiter an, während es die Wachstumsaussichten der asiatischen Ökonomien begrenzt.

Aus diesemVorgang kann gefolgert werden, daß das Denken der verschiedenen Marktteilnehmer keineswegs "globaler" Natur ist. Bezugspunkte sind vielmehr die jeweiligen Regionalmärkte, die sich nicht nur sehr unterschiedlich, sondern völlig entgegengesetzt entwickeln können. Diese Entwicklung liegt insbesondere in der Liberalisierung der Finanzmärkte begründet, deren Dynamik auf die Stärkung der einen und die Schwächung einer anderen Region hinausläuft. Die Wirtschaftsregionen der Erde befinden sich demnach entweder in einer Phase der Konjunktur oder in einer Phase der Rezession. "Globale" Regeln, wie sie die WTO zu implementieren trachtet, können demnach einer Region nützen, einer anderen aber erheblich schaden.

Vor diesem Hintergrund ist das Scheitern der WTO-Konferenz von Seattle nicht zufällig zustande gekommen. Aus Sicht der asiatischen Staaten ist ein Treffen der ASEAN-Staaten eben von höherer Bedeutung als der Durchbruch zu einer weiteren Liberalisierungsrunde in Seattle. Wirklichkeitsfremd erscheint der Anspruch der WTO, die Komplexität des internationalen Handels in ein allgemeinverbindliches Regelsystem pressen zu wollen. Diese Feststellung spricht im übrigen auch gegen Thurows These vom "Evolutionsprozeß" der Handelsblöcke hin zu einer globalen Wirtschaft. Eine "globale Wirtschaft" wird eine Illusion bleiben.


 
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