© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


Pankraz,
die Befreiungsfront und der Seehund im Himmel

Jetzt bekämpfen sich schon die gemäßigten Tierschützer und die radikalen Tierschützer gegenseitig, und zwar gnadenlos. In England überfielen Mitglieder der radikalen "Animal Liberation Front" (ALF) einen zu den Gemäßigten zählenden Reporter, als der auf dem Weg war, eine illegale Veranstaltung mit Hundezweikämpfen heimlich zu filmen. Sie schleppten ihn auf eine Weide und brannten ihm dort mit glühenden Eisen ihre Initialen ALF auf den Hintern. "Damit du spürst, wie sich die Stiere fühlen, wenn sie von den Farmern gezeichnet werden."

Der von ALF gebrandmarkte Gary Hall sagt aber, er werde die Lektion geistig nicht annehmen. Zwischen illegalem Hundezweikampf und legalen "cattle"-Brandmarkungen sei nun mal ein Unterschied, der Tierschutz sei keine Sache des Gefühls, sondern eine Sache des Gesetzes, und er, Hall, lasse sich auschließlich vom Gesetz leiten. Deshalb seine Attacken auf ALF. Den Tieren müsse zu "ihrem Recht" verholfen werden, andererseits müsse sich ALF an Recht und Gesetz halten. Die "rabiaten Gefühlskampagnen" der Befreiungsfront schadeten der Sache der Tiere nur.

Bei Lichte betrachtet nimmt nicht ALF, sondern Hall die radikale Position ein. Die Methoden der Befreiungsfront sind zweifellos oft kriminell und menschenverachtend, ihre Grundhaltung ist jedoch konventionell, ja, fast altmodisch. Den Tieren wird, im Sinne Buddhas oder Schopenhauers, lediglich "Mitleid" zuteil, sie werden als "Mitgeschöpfe" anerkannt und in eine Strategie der Schmerzvermeidung einbezogen. Ihre Inferiorität und Vernunftferne steht damit aber nicht in Frage.

Bei Hall hingegen erscheint die lebende Kreatur, auf welcher Entwicklungsstufe sie immer stehen mag, von vornherein als rationales Rechtssubjekt. Die Tiere sollen nicht "befreit", sondern voll in das menschliche Sozialleben integriert werden, und zwar als in jeder Hinsicht Gleiche. Sie haben nicht nur Anspruch auf Mitleid und Freiheit von Quälerei, sondern auf die ganze Palette justizförmiger Verfahren, die dem "animal rationale", dem "zoon politicon" zur Verfügung steht.

So neu und revolutionär, wie es sich anhört, ist das übrigens gar nicht. Schon im europäischen Mittelalter und in der frühen Neuzeit machte man nicht nur Pferden und Schweinen, Hunden und Ochsen den Prozeß, sondern auch Tauben, Mäusen, sogar Blutegeln, Schnecken und Ameisen. Die Verfahren gegen Tiere, die sich "einer Straftat verdächtigt" hatten, liefen mit derselben Pedanterie ab wie die gegen Menschen.

Man kann das an unzähligen überkommenen Gerichtsprotokollen und Henkersrechnungen aus jenen Zeiten erkennen. Nach einer Quittung vom 26. Oktober 1408 beispielsweise, die in Chalons-sur-Marne aufbewahrt wird, waren die Ernährungskosten eines Schweines in der Untersuchungshaft die gleichen wie die eines menschlichen Gefangenen. Und als der Henker von Schweinfurt am 9. Juni 1576 ein Schwein, das einem Kind ein Ohr abgebissen hatte und dazu verurteilt worden war, seinerseits ein Ohr zu verlieren, einfach totschlug, heulten die Zuschauer auf und verjagten den Henker.

Wobei man daran denken sollte, daß die mittelalterlichen Schweine ja noch lange keine faulen und fetten Haustiere waren. Sie waren halbwild, mußten sich im Eichenwald ihr Futter selber suchen, vermehrten sich unterm Schutz des Hl. Antonius ungebührlich, wurden zur Landplage, und wenn ihnen ein kleines Kind über den Weg lief, griffen sie es nur allzu oft an. Sie waren nicht beliebt. Um so eindrucksvoller das Rechtsdenken der Schweinfurter Bürger.

Allerdings ging es damals, wie aus den angeführten Beispielen ersichtlich, in erster Linie um die "Schuldfähigkeit" des Tieres. Ein Floh etwa wurde für rechtsfähig erklärt, damit man ihn schuldig sprechen ("schuldig des unprovozierten Beißens") und guten Gewissens knacken konnte. Solches Verfahren leuchtete vor allem dem einfachen Volk ein. Die spätere Versachlichung des Tieres war ein Anliegen der oberen Zehntausend, Produkt des aufgeklärten Rationalismus, als Descartes verkündete, da das Tier keine "res cogitans", keine Seele, besitze, sondern lediglich "Ausdehnung" ("res extensa"), müsse es auch als bloße Ausdehnung behandelt werden, als gefühlloses Etwas.

Heutige "gemäßigte" Tierschützer à la Gary Hall kämpfen mit Leidenschaft dagegen, daß man das Tier als Sache, als "bloße Sache", behandelt, drücken sich indessen gern um das Problem der Schuld herum. Für sie sind Tiere wie Kinder oder geistig Behinderte, sie verfügen "prinzipiell" über sämtliche Rechte, können aber im Falle der Verschuldung das negative Privileg verminderter Zurechnungsfähigkeit in Anspruch nehmen. Mit anderen Worten: Man darf mit ihnen nicht, wie es im Mittelalter der Brauch war, besonders hart verfahren, sondern muß im Gegenteil verstärkte Rücksicht und Nachsicht walten lassen.

Auch differenziert man heute sehr zwischen den einzelnen Tiergattungen. Einen Floh oder einen Regenwurm will kaum noch jemand als Rechtssubjekt estimieren, dafür aber einen Orang-Utan oder einen Delphin umso mehr. Eine reiche Kasuistik des "Tier-Rechts" ist in den angelsächsischen Ländern im Entstehen, und bald wird man sich auch bei uns der Sache gründlicher zuwenden.

Pankraz fragt sich freilich, ob den Tieren mit Rechtsförmigkeit und Kasuistik wirklich besser gedient ist als mit frei schwebendem Mitleid und spontaner Zuneigung. Man muß als Tierfreund, der die Erhebung seiner Freunde zu Rechtssubjekten ablehnt, ja nicht gleich zum Mitglied von rabiaten Befreiungsfronten werden, die Menschen mit Brenneisen foltern.

Vielleicht genügt es, sich so zu verhalten wie jener Eskimo bei Schopenhauer, der zum Christentum bekehrt werden sollte und der zum Missionar sagte: "Wenn es in eurem Himmel keine Seehunde gibt, dann will auch ich nicht in diesen Himmel kommen."


 
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