© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    50/99 10. Dezember 1999


CD: Peter Sloterdijk
Merlin des Vortrags
Andreas Wild

Ein hinreißendes Stück Multimedialität ist anzuzeigen: Peter Sloterdijks Karlsruher Vorlesung "Ödipus oder Das zweite Orakel" auf Doppel-CD mit Begleitbuch und Schaubildern von Günter Schiepek und Guido Strunk. Auch diejenigen, die bereits alles über Ödipus und die unendliche Strecke der ihm gewidmeten Hermeneutik zu wissen glauben, kommen hier auf ihre Kosten. Der Hörer wird buchstäblich verzaubert. Sloterdijk löst seinen Ruf voll ein, ein Rhetoriker von allerersten Graden zu sein, ein Merlin des Vortrags gewissermaßen.

Er folgt dem Text des Sophokles-Dramas "Ödipus Tyrann", dessen entscheidende Stellen er rezitiert und auslegt, auf beiden Ebenen mit einer phonetischen Sensibilität und lässigen Geschmeidigkeit, die Bewunderung verdienen. Der Mitschnitt ist gestochen scharf und fängt auch "Nebengeräusche" ein, Gelächter der Zuhörer bei rhetorischen Pointen, zufälliges Glockengeläut von Kirchen draußen vor dem Hörsaal. Es entsteht eine Intimität geistigen Beisamenseins, wie sie kein Buchtext je vermitteln könnte. Das moderne Medium beweist seine punktuelle Überlegenheit.

Ödipus erscheint mit Gewalt als eigentlicher Gründer der abendländischen Metaphysik und des abstrahierenden Denkens. "Seine Selbstblendung", schreibt Sloterdijk im Begleitbuch, "ist die philosophischste Szene der Bühne überhaupt. Mit der Lossagung von den gewöhnlichen Augen fängt die Geschichte des radikal anderen Sehens an. Die blutigen Augenhöhlen des blicklosen Ödipus gehören schon in die Geschichte des philosophischen Denkens; sie bezeugen den Preis der durchgeführten Abstraktion auf das Eine-Gute-Wahre hin."

Dies also ist die Zentralthese. Sloterdijk baut darum herum Kadenzen, als handle es sich nicht um eine Vorlesung, sondern um ein musikalisches Capriccio. Und wie nebenbei erfährt man höchst treffende (und amüsierende) Einsichten etwa über den neuzeitlichen "Consulting"-Betrieb, über die Verführbarkeit von führenden Managern durch Banalsprache oder über die Funktion heutiger Politiker als "Leber" der Gesellschaft, in der alle möglichen giftigen Rankünen "gereinigt" werden. Ein Panorama modernster Fragestellungen entfaltet sich vor dem düsteren Plafond der grausamen alten Mord- und Blendungsgeschichte. Am Ende aber verharrt der Hörer vor dieser Geschichte betroffen wie am ersten Tag, fragt sich mit Sloterdijk: Wieviel Wahrheit verträgt der Mensch?

Die Schaubilder und Graphiken, die Schiepek und Strunk der CD beigegeben haben, reagieren auf derlei Fragen wie ein Resonanzboden, machen sie gleichsam sichtbar. Sie erinnern an jene Höhlenzeichnungen aus der fernen Steinzeit, die auch im Vortrag Sloterdijks angesprochen werden – als Dokumente eines die Dinge nicht allzu genau kennen Wollens – und für die bei Sophokles Jokaste steht, die Mutter und Ehefrau des Ödipus, die die schreckliche Wahrheit schon immer geahnt, wenn nicht gewußt hat, sie aber mit Absicht beschwieg, um den Schrecken von Theben fernzuhalten.

Doch der Schrecken kam trotzdem und gerade deshalb über Theben. Wir können ihm, so das Resümee Sloterdijks, nicht entfliehen, wir vertiefen ihn durch die Erkenntnis nur, können ihn aber, als Geblendete, möglicherweise ein Leben lang aushalten.

Bezug: Verlage supposé, mixed media, Köln (Fax 0221 / 7 39 29 30). Format: 2CDs & Begleitbuch, Länge: 121 Minuten, 44 Seiten Preis: 58 Mark


 
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