© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Ausstellung: Der ungekannte Horizont – Finnische Kunst 1870–1920
Die Wurzeln eines Volkes
Jean-Jacques Mourreau

Für viele Europäer ist Finnland "terra incognita". Nicht anders ergeht es seiner Malerei, die außerhalb von Spezialistenkreisen weitgehend unbekannt ist. Das Anliegen einer Ausstellung im französischen Lille besteht darin, einem breiten Publikum die geheimnisvolle Kraft nahezubringen, die der einzigartige Charakter dieses Volkes in sich birgt.

Im Februar 1835 veröffentlichte Elias Lönnrot die erste Auflage von "Kalevala oder Die alten karelischen Lieder des finnischen Volkes". Die Legenden der alten Barden, die er so sorgfältig zusammengetragen hatte, sollten ein ganzes Volk aufrütteln. 26 Jahre, nachdem es unter das russische Joch gefallen war, ließ sich dasselbe Finnland, das mehrere Jahrhunderte unter schwedischem Einfluß gestanden hate, in seiner Entfaltung nicht mehr bremsen.

Der "Kalevala" löste eine finnophile Bewegung aus, eine fulminante kulturelle Revolution. Dichter, Schriftsteller, Musiker und Maler begannen, die Sprache, die Mythen, die Seele ihres Volkes wiederzuentdecken. Jean Sibelius, Eino Leino und Akseli Gallen-Kallela waren lebhaft an dieser Entwicklung beteiligt. Aus dem im "Kalevala" besungenen Heldentum schöpften sie die Kraft, die ihre eigenen Werke auszeichnet. Dieser Aufbruch war mehr als nur ein Vorspiel zu der am 6. Dezember 1917 ausgerufenen Unabhängigkeit Finnlands, sondern stellt selber einen Gründungsakt dar.

Bis zu diesem Zeitpunkt hatten die finnischen Maler sich – wie andere nordische Künstler auch – sehr stark von außen beeinflussen lassen. Einige von ihnen, wie der gebürtige Schwede Albert Edelfeldt (1854–1905), feierten in Frankreich und Rußland große Erfolge. Andere pilgerten in die Bretagne, um das Licht und die Farben wiederzufinden, die Gauguin so wichtig waren. Zu erwähnen sind hier Hélène Schjerfbeck (1862–1946) und Amélie Lundhal (1850–1914). Wieder andere, zum Beispiel Juho Rissanen (1873–1950), ließen sich in Sankt Petersburg nieder und gingen bei Ilja Repine in die Lehre. Sie studierten in Deutschland, wie Victor Westerholm an der Akademie der Künste in Düsseldorf oder wie Magnus Hjalmar Munsterhjelm (1840–1905) und Berndt Lindholm (1841–1914) an der Staatlichen Akademie für Bildende Künste in Karlsruhe.

Die neunziger Jahre des letzten Jahrhunderts brachten eine Wende. Auf der Suche nach dem "Finnischen" begaben sich die Künstler in den unberührten Osten ihres Landes. Albert Edelfeldt und sein Schüler Akseli Gallen-Kallela (1865–1931) packten ihre Staffeleien und Farbtuben und zogen gemeinsam los, um dieses mythische Karelien, den Geburtsort des "Kalevala", naturgetreu malen zu können.

Gallen-Kallela, eine herausragende Persönlichkeit der finnischen Kunst, hatte sich einen Namen gemacht als Maler realistischer Naturszenen im Stil des Franzosen Jules Bastien-Lepages, der sich unter den nordischen Malern großer Beliebtheit erfreute. Vor allem anderen jedoch bewegte Gallen-Kallela das Gedankengut des nordischen Künstlerkreises. Er arbeitete mit dem Schweden August Strindberg und später auch mit dem Norweger Hans Jaeger. Schon bald entdeckte er Nietzsche und ließ sich von der national-romantischen Richtung anstecken.

Vor seiner Rückkehr in das Land der Seen und Birken hatte Gallen-Kallela sich bereits um eine bildliche Darstellung der Helden bemüht, die der "Kalevala" besingt. Aber erst auf seinen langen Reisen durch Karelien, wo alte Traditionen noch geheiligt wurden, wo Lönnrot die epischen Lieder gesammelt hatte, die von den Heldentaten des alten Vainämöinen, dem Schicksal der schönen Aino, den Rachegelüsten des Joukahainen, dem Tod Lemminkäs berichten – erst hier sollte der "Sibelius der Malerei", wie ihn die Finnen nennen, seine wahre Inspiration, sein Herzblut finden. Fortan sollte der "Kalevala" zum ständigen Begleiter seines Lebensweges werden. Aus dieser Selbstfindung ging er als Begründer des "Karelianismus" hervor, einer breiten geistigen Strömung, an der die wichtigsten Dichter und Komponisten des Landes teilhatten.

In der Ausstellung sind mehr als dreißig Künstler vertreten, darunter einige Frauen. Ihre Werke, insgesamt über 150 Bilder, sind Zeugnisse sämtlicher Stilrichtungen – vom Naturalismus über den Nationalsymbolismus und den Expressionismus bis hin zum Kubismus. Sie zeugen von der Entwicklung der Künstler ebenso wie von ihrer unermüdlichen Energie. Vor den Augen des Besuchers ziehen die verführerischen Landschaften Finnlands vorbei. Die Seen scheinen verzaubert. Das Licht des nordischen Sommers ist von metallischer Klarheit in Albert Edelfeldts "Sonnenuntergang über den Hügeln von Kaukola" (1880–1890). In Gallen-Kallelas "Der Keitele-See" (1905) spiegelt sich der Schatten des Waldes in goldenen Lamellen. Blaugraue Einsamkeit drücken die Baumstämme der "Zitterpappeln" (1900) des Malers Pekka Halonen (1865–1933) aus. Und wie könnte man jemals den "Leichenzug eines Kindes" von Edelfeldt vergessen? Eine schweigende Familie begleitet in einem Boot den Sarg eines Kindes auf seiner Reise in die Ungewißheit eines riesigen Sees.

Die Landschaft steht in dieser bildlichen Sinfonie immer an erster Stelle. Sie vermittelt eine besondere Art der Religiosität und eine gewisse Melancholie. Letztere erreicht ihren Höhepunkt in den Werken Hugo Simbergs (1873–1917). Unter dem Einfluß Gallen-Kallelas malte dieser vor allem Landschaften wie den "Frühlingsabend" (1897): Der gelbe Himmel einer Abenddämmerung spiegelt sich in einem bewegungslosen See. Die Bäume erheben sich starr und düster. Der Betrachter fühlt sich an Arnold Böcklins "Toteninsel" erinnert. Später sollte Simberg sich einer Ausdrucksweise bedienen, die rein und geradezu naiv erscheint. Er spielt virtuos mit Symbolen und Visionen, in denen sich Spott, Lebenslust und das Makabre miteinander vermengen. Sein "Verwundeter Engel" (1903), den eine geheimnisvolle Aura umscheint, läßt den faszinierten Betrachter nicht los. Der Engel ist weiblich. Sein Kopf ist gesenkt, seine verbundenen Augen symbolisieren blinde Leidenschaft, er hält weiße Blumen in der Hand. Sein verwundeter, blutbefleckter Flügel schleift auf dem Boden, zwei Jünglinge tragen ihn aus dem Bild hinaus.

Ohne sich dem zu verwehren, was sie im Ausland lernen konnten, gingen die finnischen Künstler einen Schritt weiter und stellten alle methodischen Fragen in den Dienst ihrer Mission: die Heimatverbundenheit ihres Volkes zu zelebrieren. Sicherlich besteht ein drastischer Gegensatz zwischen Gallen-Kallela und dem Expressionisten Tyko Sallinen (1879–1955), der stark von dem Bürgerkrieg und dem Einfluß der russischen Avantgarde geprägt war. Die Aussageabsicht, die Themen, die Technik, die Farbpalette seiner Bilder kontrastieren mit denen Gallen-Kallelas. Dennoch drücken beide dieselbe Einzigartigkeit aus. Ihre Kunst ist so kraftvoll, daß sie den Betrachter betört und verblüfft. Genau wie die finnische Seele selbst ist sie von einer Melancholie gezeichnet, für die es keine Worte gibt, und gleichzeitig bar jeder Künstlichkeit. Sie ist das Abbild einer Zeit, in der ein jedes Volk noch seine eigene Musik besaß, und eine klare Vorstellung seiner eigenen Identität.

Die Ausstellung wird noch bis zum 2. Januar 2000 im Palais des Beaux-Arts in Lille gezeigt.


 
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