© JUNGE FREIHEIT Verlag GmbH & Co.  www.jungefreiheit.de    51/99 17. Dezember 1999


Moral und Hypermoral: Über den Sozialphilosophen Arnold Gehlen
Am Schicksal der Nation gelitten
Karlheiz Weissmann

Von Nicolas Gomez Davila stammt der schöne Satz "Der Progressive triumphiert immer, der Reaktionär hat immer recht." Es ist in diesem Aphorismus eine Grundeinsicht konservativen Denkens formuliert: Gegen den Zeitgeist mag Widerstand vernünftig und ehrenvoll sein, aussichtsreich ist er nicht.

Die Geschichte kennt viele Phasen, in denen ein edler oder ein niederer Enthusiasmus die Menschen ergriff. Einige Zeit später kam die Ernüchterung, schlimmstenfalls das katastrophale Scheitern. Obwohl die durchschnittliche Einsichtsfähigkeit normalerweise verbürgt, daß keine völlig absurde Vorstellung Gefolgschaft findet, so gibt es doch auch den Ausnahmefall und dann die Bereitschaft vieler, gegen alle Erfahrung und gegen das Realitätsprinzip zu handeln. Vor den Folgen solcher Handlungen zu warnen, ist nicht das einzige, aber das zentrale Motiv aller konservativen Kulturkritik.

Das Buch "Moral und Hypermoral" des Philosophen und Soziologen Arnold Gehlen kann man durchaus als Warnung dieser Art betrachten. Gehlen veröffentlichte den Band vor dreißig Jahren, im Frühherbst 1969, und entfachte damit eine Debatte in der Bundesrepublik, wie es seither keinem konservativen Autor mehr gelungen ist. Bei "Moral und Hypermoral" handelte es sich um ein Alterswerk und um einen Bruch mit dem sonst von Gehlen befolgten Grundsatz, politische Äußerungen im direkten Sinne zu meiden. Gehlens Ruf als Wissenschaftler hatten seine Arbeiten zur Anthropologie (vor allem: "Der Mensch. Seine Natur und seine Stellung in der Welt", Berlin 1940, zahlreiche Neuauflagen) und zur Institutionenlehre (vor allem: "Urmensch und Spätkultur", Bonn 1956, zahlreiche Neuauflagen) begründet. Hier entwickelte Gehlen seine Vorstellung vom Menschen, der als organisches "Mängelwesen" – ohne Waffen, ohne Klimaschutz, ohne Umwelt, ohne sichere Instinkte – gezwungen sei, "Prometheus" zu werden, sich von der Natur handelnd zu emanzipieren und eine Kultur zu schaffen. Für Gehlen war der Mensch als Naturwesen ganz unvorstellbar, er hat sich gern als "Anti-Rousseau" bezeichnet gesehen.

Aber auch die "zweite Natur", das Gefüge der Institutionen, das der Mensch im Lauf der Geschichte geschaffen hat, um seinen Mangel an Verhaltenssicherheit auszugleichen, erschien ihm außerordentlich labil. Ordnung war nach Gehlens Meinung das Ergebnis großer und im Grunde unwahrscheinlicher zivilisatorischer Leistungen, die man nur aufrechterhalten konnte, wenn die Disziplinierung des einzelnen nicht nachließ. Eben weil es keine biologisch fixierten automatischen Handlungsabläufe des Menschen gibt, vertrat Gehlen die Auffassung, daß die Erziehung durch die Institutionen, vom Staat über die Kirche und den Schützenverein bis zur Familie, so eingerichtet werden müßten, daß sie den einzelnen orientierten.

Es ist leicht vorstellbar, mit welcher Besorgnis Gehlen die gesellschaftlichen Veränderungen in der Bundesrepublik seit dem Beginn der sechziger Jahre beobachtete. Was hier als "Demokratisierung" und "Liberalisierung" aller möglichen Lebensgebiete daherkam, gedacht, die Unmündigen mündig zu machen, erschien ihm als ein außerordentlich gefährlicher Prozeß, in dem zuerst die notwendige Einpassung in die Institutionen in Frage gestellt würde, um zuletzt (und von den meisten unbeabsichtigt) das Terrain für die Barbarei oder den Terror zu bereiten. Es war diese Sorge, die Gehlen dazu brachte, als Emeritus noch einmal zur Feder zu greifen und in einer scharfen Polemik die Verfechter der großen Emanzipation anzugreifen.

Gehlen vertrat in "Moral und Hypermoral" die Auffassung, daß der "Humanitarismus" – eine undurchdachte, sentimentale Weltanschauung, die die Macht und mit ihr den Staat an sich verteufelte – in der Nachkriegszeit eine fatale Wirkung gerade in Deutschland entwickelt habe. In Erinnerung an den Machtmißbrauch durch das NS-Regime sei eine falsche Haltung erwachsen, die die Realitäten des Daseins und vor allem des politischen Daseins einfach nicht zur Kenntnis nehmen wolle. Der Versuch, alle Lebensäußerungen dem Maßstab einer "Kleingruppenmoral", wie sie etwa in der Familie Geltung hat, zu unterwerfen, war seiner Meinung nach nicht nur zum Scheitern verurteilt, er schuf eine Bürgerkriegslage, in der die linke Vorstellung, man vertrete die Partei der Opfer und der Geschundenen, ein ausgesprochen gutes Gewissen bei der Vernichtung aller etwaigen Feinde produzieren könnte.

Gehlen hielt dem nicht allein die Erkenntnisse seiner Anthropologie und seiner Institutionenlehre entgegen, er versuchte auch deutlich zu machen, daß jede wirklichkeitsnahe Auffassung des Politischen davon auszugehen habe, daß nur eine "pluralistische Ethik", die die Eigengesetzlichkeit bestimmter Bereiche etwa des staatlichen Handelns akzeptiere, die Handlungsfähigkeit in einer unübersichtlichen Welt verbürge. Gerade jene "Entfremdung" von seiner "Natürlichkeit", die Gehlens marxistischen Gegnern als Grundübel erschien, betrachtete er als Ausgangsbedingung, um die Institutionen intakt zu halten, mehr noch: nur in der Bereitschaft zu dienen und insofern seine "Entfremdung" anzunehmen, sah er eine Möglichkeit sinnvoller Existenzgestaltung.

Schon vor Erscheinen von "Moral und Hypermoral" veröffentlichte der Spiegel eine zweiseitige Besprechung, in der die Gedanken Gehlens umfassend referiert wurden. Die Rezension war, wie man sich denken kann, durchaus kritisch, und besonders irritierte den Verfasser das Vorhandensein "offenkundig patriotischer Gefühle" bei einem Gelehrten, der sonst alle öffentlichen Emotionen peinlich mied. Tatsächlich hatte Gehlen bis dahin selten zur deutschen Lage nach dem Zweiten Weltkrieg Stellung genommen. Und auch in "Moral und Hypermoral" war vieles verklausuliert, aber doch nicht zu übersehen, daß der sonst so Distanzierte am Schicksal seiner Nation litt.

Gehlen prophezeite damals, daß den Deutschen von interessierter Seite jedes kollektive Selbstbewußtsein ausgetrieben werde. Den Behauptungswillen wolle man zuerst ächten, dann zerstören und schließlich ein "Reich der Lüge" aufrichten, in dem die deutsche Geschichte als ein einziges schuldhaftes Geschehen erscheine und jeder die Befreiung von dieser Last ersehne, die natürlich nur um den Preis der Identität zu habe sei. Genau diesen Preis werde der "Antichrist" einfordern, der sich wie immer als "Erlöser" gebärde.

"Moral und Hypermoral" ist eine Polemik, und es gehört zum Wesen der Polemik, daß sie drastisch ist. Man mag Gehlen in der einen oder anderen Hinsicht nicht folgen, aber im grundsätzlichen bleibt die Berechtigung seiner Diagnose kaum bestreitbar. Das ist um so frappierender, als die Schriften seiner Gegner heute längst Makulatur sind. Wer spricht noch von den Verheißungen der sechziger Jahre? Allerdings spricht bisher auch kaum jemand über die Bilanz der großen Befreiung und das Soll, das sich bei jeder sorgfältigen Rechnung zeigen wird. Auch dafür gibt es Ursachen, die man in Gehlens Band sehr präzise analysiert findet.

Noch 1963 hat Jürgen Habermas die Ansicht geäußert, daß Gehlen der Repräsentant einer der wichtigsten philosophischen Strömungen in der Bundesrepublik sei. Davon war schon am Ende des Jahrzehnts keine Rede mehr. Der atmosphärische Wandel hatte lange vor den großen Unruhen der Jugendlichen und Studenten eingesetzt. Was das im konkreten Fall bedeutete, kann man einem merkwürdigen Dokument entnehmen, das sich aus dieser Zeit erhalten hat.

1967 lud die ARD Gehlen und Theodor W. Adorno zu einem Streitgespräch über die aktuelle gesellschaftliche Lage. Die Diskussion zwischen Gehlen und dem einen Haupt der Frankfurter Schule zeigte rasch eine seltsame Schieflage. Adorno sprach ganz im Gefühl, die Geschichte auf seiner Seite zu haben, während sich Gehlen eigentümlich gehemmt und ungeschickt zeigte. Das wirkt im nachhinein um so seltsamer, als Gehlen offensichtlich die besseren Argumente auf seiner Seite hatte, wenn er sich gegen die Erwartung aussprach, daß die Auflösung aller Bindungen das Entstehen stabiler Persönlichkeiten fördern werde, und davor warnte, die kleinen Tugenden des Alltagslebens dauernd zu denunzieren. Bestimmt hat sich niemand bei der ersten Ausstrahlung dem Gefühl entziehen können, daß Gehlen gegen Adorno unterlegen war. Auch das eine Illustration für den oben zitierten Satz von Gomez Davila.

Arnold Gehlen

Der am 29. Januar 1904 in Leipzig geborene Arnold Gehlen zählt zu den wenigen konservativen Sozialphilo-sophen Deutschlands im 20. Jahrhundert. Sein anthropologischer Ansatz geht vom Menschen als Mängelwesen aus, das zum Überleben auf Institutionen angewiesen ist, die ihm Sinn und Halt vermitteln. Solche Institutionen sind neben Kirche und Staat auch Wissenschaft, Sprache und Kunst. Zu seinen wichtigsten Veröffentlichungen gehören "Der Mensch. Seine Natur und Stellung in der Welt" (1940), "Die Seele im technischen Zeitalter" (1957) und "Moral und Hypermoral" (1969). Gehlen war von 1934 bis 1944 Professor an den Universitäten Leipzig, Königsberg und Wien. Von 1947 bis 1962 lehrte er an der Hochschule für Verwaltungswissenschaften in Speyer. Gehlen starb am 30. Januar 1976 in Hamburg.

 

Dr. Karlheinz Weißmann ist Historiker und Studienrat in Göttingen. Sein Text erschien zuerst am 1. Dezember in der Zeitschrift "Gegengift" (Edition Coko, Raiffeisenstr. 24, 85276 Pfaffenhofen) und ist hier mit der freundlichen Genehmigung des Autors nachgedruckt.


 
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